Schwerpunkt-Thema

B e w u s s t e s   S e i n

 

Meditationsabend am  12. März  2023

DIE ALLGEGENWÄRTIGE BEWUSSTHEIT

Das reine Selbst ist immer-gegenwärtiges Bewusstsein, auch wenn wir dessen Existenz bezweifeln. In dieser einfachen Wahrnehmung erkenne ich:

Ich bin mir meines Körpers bewusst, also bin ich nicht nur mein Körper;  ich bin mir meines Geistes bewusst, also bin ich nicht nur mein Geist; ich bin mir meines Selbst bewusst, also bin ich nicht nur mein Selbst.

Vielmehr nehme ich meinen Körper, meinen Geist, mein Selbst wahr. Das ist wahrhaft faszinierend:Ich kann meine Gedanken sehen, also bin ich nicht diese Gedanken; ich bin mir der Köperempfindungen bewusst, also bin ich nicht diese Empfindungen; ich bin mir meiner Gefühle bewusst, also bin ich nicht nur diese Gefühle.

Irgendwie bin ich das Subjekt, das dies alles wahrnimmt. Doch wer oder was nimmt wahr? Die Traditionen behaupten, das, was wahrnimmt, ist Geist, ist Gott, ist Buddha-Natur in ihrer Ganzheit.

In anderen Worten: Die letzte, unbedingte Wirklichkeit ist nichts, was gesehen werden kann, sondern ist das, was immer-gegenwärtig sieht. Also ist dieses Bewusstsein nicht schwer zu erreichen, aber unmöglich zu vermeiden.

Das, was sieht, kann nicht gesehen werden. Hören wir also auf, uns mit diesem oder jenem zu identifizieren. Dann bekommen wir eine Ahnung von der unendlichen Freiheit. Wir werden dann bemerken, dass diese einfache, immer-gegenwärtige Wahrnehmung vollkommen mühelos ist.

Keinerlei Mühe macht es, Laute zu hören, Dinge zu sehen, die kühle Brise zu fühlen, und wir ruhen einfach in dieser mühelosen Wahrnehmung. Und wieder: Dieser Zustand des zeitlosen Gegenwärtigsten ist nicht schwer zu erreichen, aber unmöglich zu vermeiden.

Dinge, die gesehen werden, sind angenehm oder schmerzhaft, beglückend oder traurig, heiter oder beängstigend, – Aber das, was diese Dinge sieht, ist weder beglückend noch traurig, weder heiter noch beängstigend, sondern einfach frei.

 Wenn ich ruhe als das, was zeitlos wahrnimmt, ist es um die große Suche geschehen. Die große Suche ist der Feind des immer-gegenwärtigen Geistes, eine brutale Lüge angesichts einer freundlichen Unendlichkeit.

Die große Suche ist die Suche nach einer letzten Erfahrung, nach einer großartigen Vision, einem Paradies der Freuden, einer nie-endenden guten Zeit, einer machtvollen Einsicht, eine Suche nach Gott, nach der Göttin, nach dem Geist – aber Geist ist kein Objekt: Geist kann nicht begriffen, erreicht, gesucht oder gesehen werden – Geist ist das, was immer-gegenwärtig sieht.

Wenn ich kein Objekt bin, bin ich die Gottheit selbst. Fange ich an zu suchen, höre ich auf, Gott zu sein; und die Katastrophe kann nicht dadurch behoben werden, dass ich nach noch mehr Objekten suche.

Es geht darum, die immer-währende Bewusstheit klar zu erkennen. Das kostet keine Mühe. Ich bemerke einfach, dass es immer eine Wahrnehmung des Himmels gibt; ich bemerke einfach, dass es immer Wahrnehmung der Wolken gibt; ich bemerke einfach, dass das immer-währende Wahrnehmen nicht schwer zu erreichen ist, aber unmöglich zu vermeiden.

Wenn du dies verstehst, ruhe in dem, was versteht und genau das ist Geist. Wenn du nicht verstehst, ruhe in dem, was nicht versteht  – und genau das ist Geist.

 Ken Wilber

 

Meditationsabend am  26. Februar 2023

IM REINEN GEWAHRSEIN

Zuerst denken wir, dass wir unser Geist selber seien; dann stellen wir fest, dass wir einen Geist haben, und schließlich kommen wir zu der Einsicht, dass all unsere Gedanken nur von der großen Datenbank des Bewusstseins geliehen sind und nie wirklich unsere eigenen waren.

Insgesamt gibt es sieben verschiedene Bewusstseinsarten. Die ersten fünf entsprechen unseren Sinnen: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen. Die sechste ist das Denkbewusstsein und dann gibt es noch das Bindungsbewusstsein, das die von den anderen Sinnen gelieferten Informationen integriert.

Gedanken und Empfindungen, die kommen und gehen, scheinen nahtlos von einem Moment zum nächsten ineinanderzufließen – wie Einzelbilder in einem Film. Nicht anders sind auch die einzelnen Bewusstseins-Momente derart kurz und zahlreich, dass sie einen scheinbar ununterbrochenen Bewusstseins-Strom bilden. – Das letzte Wort ist da allerdings noch nicht gesprochen; denn all das sind nur vorübergehende Ideen und Vorstellungen unseres Verstandes.

Doch der Verstand ist nicht alles! Um uns ein Bild von dem „Bewussten Sein“ machen zu können, wählen wir der Einfachheit halber zwei Arten aus dem Bewusstseins-Strom aus: das Denkbewusstsein und das Fühlbewusstsein. Keine dieser beiden Bewusstseinsarten ist besser oder schlechter als die andere. Du benötigst beide Zugänge, um dich in deiner Tiefe zu verstehen. Indem du lernst, sie zu unterscheiden und für dich nutzbar zu machen, findest du Zugang zu deiner eigenen Stärke.

Das Denkbewusstsein ist meist mit der Vergangenheit und der Zukunft verbunden und setzt Denken und Sprache voraus. Wenn du über dich selbst nachdenkst, bist du in gewisser Weise von dir entfernt. Das Denkbewusstsein schafft oft eine Kluft: Auf der einen Seite erlebst du, wo und wer du gerade bist, auf der anderen, wo und wer du gerne sein möchtest. Aus diesem Mangelgefühl entsteht Begehren. Wenn du die Dinge nur mit deinem Verstand betrachtest, siehst du alles verzerrt – aus der Perspektive deines eigenen Egos.

Dagegen kommt unser Fühlbewusstsein ganz ohne Sprache aus. Du erfährst dich über das direkte Spüren und über die Einfühlung gelangst du in eine frische Wahrnehmung und Verbindung. Durch die Lenkung deiner Achtsamkeit auf deinen Körper aktivierst du das Fühlbewusstsein. Spüre deinen Körper, während du ein gutes Essen genießt, wenn du tanzt, Sport treibst, in der Sauna schwitzt oder dich bei einer Massage entspannst.

Versuche jetzt, deinen Körper nur von innen zu fühlen. Beginne am besten dort, wo du dich besonders gut spüren kannst, beispielsweise im Bereich des Sonnengeflechts oder in der Herzgegend. Auch wenn du über diese Zufluchtsorte Kontakt zu dir selbst aufnimmst, werden noch Gedanken auftreten. Lass sie einfach kommen und gehen. Statt ihnen zu folgen, lenke deine Achtsamkeit zurück auf das Empfinden in dem jeweiligen Zufluchtsort. Mit wachsender Achtsamkeit kannst du dann auch andere körperliche Empfindungen wahrnehmen.

Du wirst feststellen, dass jede Emotion mit körperlichen Empfindungen einhergeht. Wenn du verliebt bist, schlägt dein Herz schneller, es kribbelt im Bauch, du hast feuchte Hände, einen trockenen Mund. Emotionen sind oft zuerst als Körperempfindungen wahrnehmbar. Mit etwas Übung kannst du rechtzeitig bestimmte Gefühle erkennen, bevor sie die Kontrolle übernehmen. Indem du deine körperlichen Empfindungen bemerkst, hast du die Möglichkeit, dich bewusst zu entscheiden, wie du mit ihnen umgehen möchtest, anstatt impulsiv zu reagieren. Zum Beispiel kannst du in einem Streit innehalten und dich möglicherweise zurückziehen, bis deine Emotionen nicht mehr so intensiv sind.

Es ist wichtig, dass du deine körperlichen Empfindungen nicht bewertest, sondern einfach in Verbindung mit ihnen bleibst und ihnen Raum gibst. Wenn die Situation es zulässt, interessiere dich für sie und erforsche sie mit deinem Fühlbewusstsein. Verzichte auf Benennungen und Erklärungen und sei einfach präsent in dem, was du spürst.

Indem du deine Gefühle wohlwollend erforschst, bringst du ihnen keinen Widerstand mehr entgegen. Dadurch löst du dich von der Identifikation mit ihnen und beobachtest sie lediglich, wie sie kommen und gehen. Du erkennst, dass das Gefühl an sich nichts Bedrohliches ist, sondern wie eine Wolke, durch die du unbeschadet hindurchgehen kannst. Durch diese Übung kommst du auch in Kontakt mit einer tieferen Schicht in dir, die von Mitgefühl und Akzeptanz geprägt ist und eine liebevolle Kraft freisetzt.

Wenn du dich dem Spüren hingibst, lässt du den Verstand los und öffnest dich für ein tieferes Verständnis. Du erkennst, dass du eine innere Wahrheit besitzt, die als kosmisches Gedächtnis bezeichnet wird und in den Genen jedes Lebewesens verankert ist. Diese Verbindung zum kosmischen Urgrund wird jedoch blockiert, wenn du dem Großhirn und seinen gedanklichen und bildlichen Konstrukten Vorrang gibst. Um die innere Wahrheit zu erfassen, müssen die inneren Sinne Vorrang haben, gefolgt von den äußeren. Der gemeinsame Konsens aller Sinne ergibt dann das „reine Gewahrsein„.

Vermeide es daher, jedem Ereignis eine Bedeutung zuzuschreiben – es ist weder bedeutungsvoll noch bedeutungslos. Ordne nichts ein, lass es einfach nur sein. Bleibe wach und präsent im direkten Kontakt mit dem Leben. Wenn dir das gelingt, werden Spannungen sich lösen.

Der wichtigste Schlüssel zum Glück ist das direkte Erleben – im reinen Gewahrsein, welches es dir ermöglicht, mit dir selbst und anderen verständnisvoll und gütig umzugehen – auch in schwierigen Situationen.

 

Meditationsabend am  12. Februar 2023

DAS EGO IN UNSEREM BEWUSSTSEIN

Wie oft haben wir uns schon gefragt: Ist meine Vorstellung von einem Ich in Wirklichkeit nur eine Illusion? Eigentlich besteht der Mensch aus Körper und Geist. Genauer betrachtet aus den sogenannten fünf Daseinsgruppen: Körper, Gefühle, Wahrnehmungen, Willensregungen und Sinnesbewusstsein. Aus dem Zusammenwirken dieser fünf Faktoren resultiert das imaginäre Gefühl eines abgetrennten, unveränderlichen Ichs.

Schaut ihr im Verlauf der Meditationsübungen genauer hin, wird euch klar, dass diese Ich-Vorstellung sich im Denk-Bewusstsein eingenistet hat und sich je nach Situation ständig verändert. Diesen Bewusstseinszustand einer in sich selbst gefangenen Individualität bezeichnen wir als Ego, das den Eindruck vermittelt, als sei es unsere wahre Natur.

Das Ziel der spirituellen Selbsterforschung ist, diese verwirrte Sichtweise zu überwinden und die Wirklichkeit als das zu erkennen, was sie ist, nämlich ein unpersönliches Kontinuum von miteinander existierenden geistigen und materiellen Faktoren. Diese fünf Daseinsgruppen sind nicht nur als ein Prozess zu betrachten, sondern auch in ihrer Bedingtheit zu erkennen: Nichts kann als getrennter oder isolierter Teil betrachtet werden.

Das allgegenwärtige Ego ist in Wirklichkeit kein reales Ich, sondern eine Illusion. Die Ironie besteht darin, wie sehr das Ego darum kämpft, die angebliche Existenz eines individuellen „Ichs“ aufrechtzuerhalten.

Wenn es uns einmal gelingt, unser Denken für einen Moment abzuschalten und unseren Geist ganz still werden zu lassen, finden wir jedoch unser wahres Wesen, das ursprüngliche Selbst, tief unten im kollektiven Bewusstsein. Hier sind keine Gedanken und keine Gefühle mehr. Auf dieser Ebene können wir die Welt so wahrnehmen, wie sie wirklich ist.

Unser Ego dagegen bleibt immer an der Oberfläche, wo es wie die anderen Daseinsgruppen immer wieder entsteht und vergeht, geboren wird, stirbt und wieder geboren wird. Da ist nichts Beständiges. Alle Erscheinungen – Körper, Gefühle, Wahrnehmungen, Willensregungen und Sinnesbewusstsein – können Nahrung sein für unsere Ich-Besetzung und damit das ganze Drama am Laufen halten.

Ich-Besetzung bedeutet immer Trennung. Denn aus ich wird du. Ich bin anders als du. Und indem ich mich auf Ich beschränke, wirst du sehr schnell anders. Ich untersuche, ob du mir nützlich oder schädlich bist. Und indem ich mich begrenze, erwecke ich vermeintliche Bedürfnisse. Je unerfüllter wir sind, desto bedürftiger sind wir. Und wenn wir sehr bedürftig sind, dann nehmen wir, was wir kriegen können. Ein Ego nimmt immer, was es kriegen kann.

Wenn wir bereit sind, unsere gewohnte Perspektive einmal zu verlassen, uns einzulassen auf unser Erleben, in dem Maße, wie wir unser Erleben verfeinern, dann erkennen wir, dass die Erscheinungswelt nicht identisch ist mit der Seinswelt. Erscheinungsweise und Seinsweise sind nicht gleich.

Der menschliche Verstand erschöpft sich unablässig in Erklärungen des Unerklärlichen. Die Erklärung selbst ist eine Farce, so anmaßend wie der Versuch, seinen eigenen Hinterkopf zu sehen, aber die Eitelkeit des Egos ist grenzenlos und wird durch eben dieses Bemühen, dem Unfug einen Sinn zu verleihen, immer überzogener.

Wir erinnern uns nicht daran, dass wir darum baten, geboren zu werden, und wir erbten einen Geist, der kaum in der Lage ist, zwischen dem zu unterscheiden, was dem Leben zuträglich ist, und dem, was zum Tod führt. Der Geist in seiner Identität mit dem Ego kann per Definition die Wirklichkeit nicht verstehen; gelänge es ihm, seine eigene illusorische Natur zu erkennen, würde er sich selbst zerstören.

Im gesamten Lebenskampf geht es darum, diese Kurzsichtigkeit zu überwinden. Wir können nicht auf höhere Existenzebenen gelangen, bis wir das Bewusstsein so weit voranbringen, dass wir die Dualität überwinden. Tatsächlich ist sogar von einem rein wissenschaftlichen Standpunkt aus Rettung möglich:

In Wahrheit wird sie durch die einfache Tatsache gewährleistet, dass die Energie eines liebevollen Gedankens so enorm viel stärker ist als die eines negativen. Der Weg der Liebe und des Mitgefühls, der traditionellerweise empfohlen wird, hat deshalb eine gesunde wissenschaftliche Grundlage.

Und nur, indem du dir den Weg zum bewussten Sein erschließt, öffnet sich das große Geheimnis. Denn hinter allem Wandel gibt es ein Sein, das ewig ist und wandellos, eine Dimension grenzenlosen Glücks. Es braucht keine Strategien, es braucht nicht zu viel Wissen.

Allerdings bleibt für uns alles graue Theorie, wenn wir nicht konsequent meditieren und die betreffenden Erfahrungen selbst erleben. Wir können uns durch entsprechende Übungen – wie in der folgenden angeleiteten Meditation – Bewusstseinszustände erschließen, in denen das ganze Theater, was wir inszenieren und was uns das Leben schwermacht, endlich aufhört.

Bewusstseinszustände, in denen Leiden nicht mehr möglich ist, weil jede Dualität, weil jede Begrenzung erloschen ist. Diese Zustände haben zu tun mit Offenheit, mit Präsenz und mit dem Leben im bewussten Sein.

Was wir über das Sein wissen müssen, werden wir nicht irgendwo außerhalb von uns entdecken. Jede Erfahrung, die wir machen, sollten wir nach innen wenden, wo unser Selbst Erfahrung verarbeitet ebenso wie unser Körper Nahrung.

Natürlich gehen wir auch weiterhin hinaus in die Welt – doch dann geschieht unser Handeln aus dem Weisheitsaspekt des Bewusstseins und im Einklang mit dem Ganzen. Denn jeder von uns ist kosmisches Bewusstsein, das eine individuelle Form angenommen hat.

 

Meditationsabend am  29. Januar 2023

DAS GEHEIMNIS DER STILLE

Mitten in unruhigen Zeiten stellt sich die Frage: Was ist eigentlich Stille? Im Allgemeinen neigen wir dazu zu denken, dass Stille die Abwesenheit von Geräuschen ist. Aber was hörst du wirklich, wenn keine Geräusche da sind?

Selbst wenn du in einem schalltoten Raum den Atem anhältst, hörst du noch Klänge. Du spürst das dumpfe Pochen deines Herzens, das zirkulierende Blut und die hohen Töne des Nervensystems – subtile Klänge, die du normalerweise nicht wahrnimmst.

Wahrscheinlich könnten wir eine absolute Stille auch gar nicht ertragen. In manchen Diktaturen wird sie sogar als Folter angewandt. Für die meisten von uns ist Stille im Alltag selten geworden. Häufig werden wir einem Geräuschpegel ausgesetzt, der unangenehm ist und krank macht. Das sind störende Geräusche, u.a. Straßenlärm, Geschrei und laute Musik. Dagegen empfinden wir Naturgeräusche oft als angenehm still, obwohl Vögel zwitschern, der Wind in den Bäumen rauscht und es im Laub raschelt.

Wahre Stille wird sich dir enthüllen, wenn dein Geist zur Ruhe gekommen ist und du empfänglich dafür bist. Um Stille in ihrem Wesen zu erleben, versuche in der Meditation mit ihr eins werden, indem du dein Ego zum Schweigen bringst und dich von der äußeren Stille in die innere Stille versenkst – in das bewusste Sein.

Wenn unerschütterliches Vertrauen dich zur Hingabe bringt, wirst du die Sprache der Stille verstehen, ihr wortloses Geheimnis erfahren, den unermesslichen Raum der Bewusstheit erfahren. Und dann erkennst du, dass der mühsame Weg, den du gegangen bist, die Reise vom Verstand zum Herzen war  – vom Denken zum Sein . . .

ZUM BEWUSSTEN SEIN

  1. In der Meditation können wir die Stille in uns wieder entdecken, indem wir damit aufhören, irgendetwas an unserer Erfahrung des jetzigen Moments zu verändern. So kommen wir zu uns selbst, in einen natürlichen Zustand – zu unserem bewussten Sein!
  2. Uns der Stille bewusst zu werden, sobald wir ihr im Leben begegnen, verbindet uns mit der formlosen und zeitlosen Dimension in uns, die jenseits des Denkens liegt, jenseits des Egos. Das kann die Stille sein, die in der Natur herrscht, die Stille in deinem Zimmer in der Morgenfrühe oder die Stille in der Einsamkeit.
  3. Stille ist in Wahrheit ein anderes Wort für Raum. Schaffe so oft wie möglich in deinem Lebensalltag Raum, indem du dir den inneren Körper bewusst machst. Spüre immer, wenn du irgendwo wartest oder innehältst, um zum Himmel emporzuschauen oder eine Blume zu betrachten, zugleich die Lebendigkeit in deinem Inneren.
  4. Das heißt, ein Teil deines Bewusstseins bleibt formlos, während der übrige Teil für die äußere Welt der Form zur Verfügung steht. Wenn du deinen Körper auf diese Weise bewohnst, dient dir das als Anker, um im Jetzt präsent zu bleiben. Dann bewahrt er dich davor, dich im Denken, in Empfindungen oder äußeren Umständen zu verlieren.
  5. Sobald du denkst, fühlst, wahrnimmst und Erfahrung machst, nimmt dein Bewusstsein Form an. Es reinkarniert sich als Gedanke, Gefühl oder Sinneswahrnehmung.
  6. Indem du das Jetzt in seiner jeweiligen Form bedingungslos annimmst, richtest du dich innerlich auf den Raum aus, der das Wesen des bewussten Seins ist. Durch Akzeptanz wirst du innerlich weit. Durch Ausrichtung auf die neue Bewusstheit statt auf die weltlichen Erscheinungsformen kommen Orientierung und Ausgewogenheit in dein Leben.
  7. Der Sinn unseres Lebens besteht darin, zu wahrer Bewusstheit zu erwachen. Dieses Ziel haben wir mit allen anderen Menschen auf dieser Erde gemeinsam – es ist Sinn und Zweck der ganzen Menschheit. Dieses Erwachen ist ein Bewusstseinswandel, bei dem sich Denken und Bewusstheit trennen.
  8. Der Wandel geht tiefer und weit über den Verstand und das Denken hinaus. Tatsächlich ist im Kern des neuen Bewusstseins die Transzendenz des Denkens bereits angelegt, die neu zugängliche Fähigkeit, sich über das Denken zu erheben und eine Dimension in sich selbst zu entdecken, die unendlich viel umfassender ist als das Denken.
  9. Dann beziehen wir unsere Identität, den Sinn für uns selbst und für das, was wir sind, nicht länger aus dem unablässigen Strom des Denkens, das wir in dem alten Bewusstsein für uns selbst halten. Welch eine Befreiung sich darüber klar zu werden, dass die Stimme im Kopf gar nicht ich bin.
  10. Wer bin ich dann? Der der dies erkennt: Die Bewusstheit, die dem Denken vorausgeht, der Raum, in dem das Denken beziehungsweise die Emotion oder Sinneswahrnehmung auftritt. Statt dein Leben zu regieren, dient das Denken fortan der Bewusstheit. Bewusstheit ist die Verbindung mit der universellen Intelligenz.
  11. Dass der Prozess des Erwachens in Gang kommt, kannst du ebenso wenig auslösen, wie du dich auf ihn vorbereiten oder ihn dir verdienen kannst. Es gibt keine klare Folge logischer Schritte, die darauf zuführen, obwohl der Verstand das gern hätte.
  12. Während du vielleicht darauf wartest, dass in deinem Leben etwas Bedeutsames geschieht, entgeht dir möglicherweise völlig, dass das Bedeutendste, was einem Menschen je widerfahren kann, in deinem Innern bereits eingesetzt hat: der Trennungsvorgang zwischen Denken und Bewusstheit.
  13. Was für eine Beziehung besteht zwischen Bewusstheit und Denken? Bewusstheit ist der Raum, in dem die Gedanken existieren, wenn dieser Raum sich seiner selbst bewusst geworden ist. Sobald du einen ersten Einblick in die Bewusstheit oder Präsenz erhalten hast, kennst du sie aus erster Hand. Dann ist dieser Zustand nicht länger nur ein mentales Bild in deinem Kopf.
  14. Jetzt kannst du dich bewusst dafür entscheiden, weil du merkst, dass etwas Bedeutsames geschehen ist, und erkennst die aufkeimende Bewusstheit als das Wichtigste überhaupt, was dir je widerfahren konnte. Dann siehst du dein vorrangiges Ziel im Leben darin, präsent und offen zu werden für dieses sich entfaltende Bewusstsein und sein Licht in die Welt zu tragen.
  15. Wo immer du Schönheit, Herzlichkeit oder den Sinn für einfache Dinge erlebst, suche den Hintergrund dieser Erfahrung stets in dir selbst. Aber suche nicht danach, wie nach einem Objekt. Du kannst ihn nirgendwo festmachen und sagen: „Jetzt habe ich’s“. Oder ihn in irgendeiner Weise rational erfassen. Das bewusste Sein ist wie der wolkenlose Himmel, es ist Raum, es ist Stille.
  16. Stille hat keine Form. Darum können wir sie nicht durch Denken wahrnehmen; denn Denken ist Form. Sich der Stille bewusst zu werden, bedeutet still zu sein. Stillsein ist Gewahrsein ohne Denken. Du bist nie tiefer und essenzieller du selbst als dann, wenn du still bist.
  17. In der Stille bist du, wie du warst, bevor du für eine gewisse Zeit diese physische und mentale Form angenommen hast, die „Person“ genannt wird. Dann bist du auch so, wie du sein wirst, wenn sich die Form wieder auflöst. In deiner Stille bist du das, was du jenseits deiner zeitlichen Existenz bist: reines Bewusstsein, bewusstes Sein, formlos und ewig.