Schwerpunkt-Thema

B e w u s s t e s   S e i n

 

Meditationsabend am 10. September 2023

IM HARA LIEGT DEINE MITTE

In Fernost hat man immer schon den Bauch für den Sitz menschlichen Lebens gehalten. Wenn man in früheren Zeiten Japan besuchte, konnte man Leute finden, die, wenn man sie fragte: „Wo denken Sie?“, auf ihren Bauch gezeigt hätten. Heute würde kein Mensch mehr sagen, dass man im Bauch dächte – es klänge so töricht. Inzwischen haben sie angefangen, im Kopf zu denken.

Aber die Betonung des Bauches ist wichtig. Der Bauch ist die Quelle des Lebens. Du warst mit deiner Mutter durch den Nabel verbunden: erst von diesem Punkt aus begann das Leben in dir zu pulsieren. Der Kopf ist der entfernteste Winkel deiner Existenz, die Mitte bildet der Bauchraum. Deine Existenz, dein Dasein ist dort zu Hause.

Dein Denken mag sich im Kopf abspielen, aber Denken ist eine Spezialisierung. Genauso, wie man seine Hände für bestimmte Zwecke benutzt, seine Beine für andere Zwecke benutzt, die Augen für gewisse andere Zwecke benutzt und Ohren und Nase … genauso benutzt man seinen Kopf, seinen Hirnmechanismus, zum Denken.

Aber wer bedient sich all dessen? Wer bedient sich der Beine zum Gehen, wer bedient sich der Hände und wer bedient sich der Augen? Wer bedient sich dann also des Hirns? Inzwischen schöpft man sogar in der Psychologie des Westens Verdacht, ob die alte Vorstellung stimme, dass der Sitz des Geistes das Gehirn sei. Heute sind große Zweifel laut geworden, dass dem vielleicht gar nicht so sei. Heute haben ein paar Leute zu denken begonnen, dass das Gehirn etwas anderes sei als der Geist.

Wo also ist der Sitz des Geistes? Zen zufolge sitzt er im Bauch, sitzt er unterhalb des Nabel – genau dort, von woher der erste Pulsschlag kam. Man kann dieses ,,Kopf oder Bauch“ auf vielerlei Art und Weise ausdrücken: Intellekt oder Intuition; Logik oder Liebe; Bewusstsein oder Unbewusstsein; der Teil oder das Ganze; Tun oder Geschehenlassen; Tod oder Leben; Haben oder Sein. Diese sieben Variationen sind möglich, und jede ist bedeutsam.

Der Intellekt ist sehr begrenzt; die Intuition ist grenzenlos. Intuition kommt immer aus dem Bauch. Wann immer du das Gefühl hast, dass dir eine Intuition kommt – eine Ahnung – kommt sie immer exakt aus dem Bauch. Dein Bauch spürt es sofort. Wenn du dich verliebst, geschieht das nie vom Kopf her. Das ist der Grund, warum Kopfmenschen sagen: ,,Liebe ist blind“. Das ist sie auch, denn sie hat nichts mit dem Gehirn zu tun. Wenn du dich verliebst, entspringt es einer anderen Quelle.

Wenn man große Wissenschaftler, große Dichter, große Kreative befragt, werden sie ebenfalls sagen, dass, wenn sie ein Aha-Erlebnis haben, es niemals aus dem Kopf kommt, es niemals dem Gehirn entspringt. Es kommt irgendwo von jenseits. Buddha hatte sich sechs Jahre lang abgemüht, hatte alles Erdenkliche unternommen, um zur Erleuchtung zu gelangen, aber es ging nicht. Eines Abends gab er das ganze Vorhaben auf. Er sagte: Die Reise geht nirgends hin und nichts wird passieren und ich gebe jetzt die ganze Sache auf. An diesem Abend schlief er entspannt ein – und nachts wurde er erleuchtet.

Am Morgen, als er die Augen aufschlug, war er ein vollkommen anderer Mensch. Irgendwas war über Nacht geschehen. Von woher? Warum geschieht es gerade dann, wenn du alles Menschenmögliche getan hast? Ja, nur dann geschieht es. Erst wenn alle Kapazitäten deines Gehirns erschöpft sind, beginnt deine Intuition ihr Werk. Das ist eine höhere Energie. Dadurch, dass du dein Gehirn restlos eingebracht hast, wirst du fähig, sie einzusetzen – nur von dort aus kannst du zur Intuition weitergehen.

Intuition arbeitet nicht einfach so. Du kannst nach Bodh Gaya fahren, wo der Nachkömmling des Baumes, unter dem Buddha erleuchtet wurde, noch am gleichen Ort steht, und du kannst dich entspannt unter ihn setzen und sagen: ,,Ich gebe es auf.“ Nichts wird passieren; denn was gibt es da groß aufzugeben? Ohne diese sechs Jahre läuft gar nichts. Es gehört eine enorme Mühe dazu, um zur Mühelosigkeit zu gelangen.

 

Meditationsabend am 13. August 2023

DER MITTLERE WEG

Warum sind wir so unzufrieden? Oberflächlich sagen wir uns vielleicht, unser Unglück entstamme einem Bedürfnis oder Verlangen, das noch nicht erfüllt wurde. Forschen wir nicht tiefer nach, werden wir niemals damit aufhören, unser endloses Verlangen stillen zu wollen. Wenn wir uns wirklich anschauen, was wir zu brauchen glauben, werden wir ein Muster erkennen: Wir schaffen uns einen sehr schmalen Pfad zwischen dem, was wir als gut und akzeptabel beurteilen, und dem, was wir schlecht und inakzeptabel finden.

Wir stellen uns vor, dass es irgendwo zwischen der Liebe und dem Hass dafür, wie die Dinge sind, einen netten Ort der Zufriedenheit und des Behagens geben müsse. Also setzen wir uns dieses Ideal zum Ziel, selbst wenn es nur eine hauchdünne Linie ist. Hin und wieder einmal können wir uns zufrieden fühlen, sobald es uns gelingt, dieses Ideal zu streifen, doch dies geschieht selten und hält nie sehr lange. Die meiste Zeit über fühlen wir uns unzufrieden, und wir hoffen, dass die Dinge besser sein könnten.

Das Problem liegt in unserer Wahrnehmung. Solange wir denken, dass die Unzufriedenheit existiert, weil irgend etwas fehlt, werden wir natürlich weiter nach einem Weg suchen, diesen Mangel auszugleichen. Wir machen damit weiter, zu suchen und uns das nächste Ding anzueignen, und das nächste Ding, und das nächste Ding, von dem wir hoffen, dass es uns den idealen Zustand der Zufriedenheit beschert.

Wie wäre es, wenn wir die Dinge so akzeptierten, wie sie sind? Wenn wir lernen könnten, mit allem, was ist, in Frieden zu sein, dann wäre jeder Tag ein guter Tag. Für das Leben ist es natürlich, Höhen und Tiefen zu haben, und wir sollten damit rechnen, gute Momente und auch schlechte Momente zu erleben. Wenn wir das einfach akzeptieren könnten, würden wir damit aufhören, uns weitere Probleme zu erschaffen. Doch stattdessen schaffen wir unseren sehr schmalen Pfad, unsere eigene Messerschneide der Zufriedenheit.

Buddha erkannte, dass unser Grundproblem in dieser Sichtweise des Lebens liegt. Stets sehen wir die Dinge aus einer selbstbezogenen Perspektive. Indem Buddha sich von der Illusion des Egos befreite, war er fähig, das Leben aus der Perspektive des Großen Geistes zu betrachten, der die Einheit aller Dinge erkennt.

Die Heilung für unser Problem scheint möglich zu sein: Wir müssen nur unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit verändern. Der erste Schritt besteht darin, einzusehen, dass wir das Leben nicht so wahrnehmen, wie es wirklich ist – und das ist, für sich betrachtet, schon sehr schwer.

Es fällt nicht leicht, unsere Perspektive loszulassen, die Art, wie wir die Wirklichkeit sehen, weil all dies damit verknüpft ist, wie wir uns selbst sehen, mit unserer eigenen Identität. Wenn wir unsere Perspektive loslassen, verlieren wir auch unsere Identität – zumindest die Identität, die wir kennen, und darauf sind wir nicht gerade begierig. Das wäre so, als ob wir ganz von vorne anfangen müssten.

Der Buddha lehrte, dass wir Frieden und Zufriedenheit finden können, wenn wir dem Mittleren Weg, traditionell bekannt als der „Edle Achtfache Pfad“ https://zen-weg.de/der-edle-achtfache-pfad/  bzw. als Basis im „Leitbild der Lotos-Sangha“ https://zen-weg.de/unser-leitbild/ verankert. Buddha bezog sich damit jedoch nicht auf einen mittleren Weg, wie ihn sich der Verstand als irgendeine Strategie vorstellt, die dünne Linie zwischen dem, was wir mögen und nicht mögen, zu begehen. Der Mittlere Weg hängt nicht von Urteilen und Vorlieben ab. Er ist in keiner Weise vom Verstand abhängig. Wenn wir versuchen, diejenigen Teile des Lebens auszuschließen, die uns missfallen, wird uns etwas fehlen.

Den Mittleren Weg zu praktizieren, bedeutet weit mehr als nur die Extreme von Genusssucht und Selbstkasteiung zu vermeiden. Er ist vielmehr eine Metapher für eine ganzheitliche Lebensweise, die auf alle metaphysischen Verabsolutierungen verzichtet. Durch eine regelmäßige Meditationspraxis ist es möglich, eine geregeltere Gewohnheit zu entwickeln, den Mittleren Weg zu finden und eine breitere Sicht auf die Dinge zu erhalten. Meditation ist kein Selbstzweck, aber sie verfügt über eine einzigartige Direktheit, Kraft und Erfahrung, was sie vermutlich zum besten Ausgangspunkt für die Praxis des Mittleren Wegs macht.

Leben wir den Mittleren Weg, dann schließen wir überhaupt nichts aus, selbst unsere Unzufriedenheit und das Leiden nicht. Wir lernen, wie wir alle Erfahrungen des Lebens umfassen können, auch Trauer, Schmerz, Streben und Bedürftigkeit. All dies sind Aspekte des Lebens. Wieso sollte man das Leben sezieren, in Stücke schneiden und nur bestimmte Teile für gut befinden?

Wir beurteilen aus Gewohnheit alles, was wir sehen, wenn wir die Welt betrachten. Die täglichen Nachrichten erinnern uns regelmäßig daran, dass sich überall auf der Welt schreckliche Dinge ereignen. Wir sind Zeugen von Krisen und Kriegen, von Terror und Fremdenhass. Wie können wir all dies umfassen? Ist es überhaupt möglich, Frieden und Zufriedenheit zu finden, solange es so viel Leid auf Erden gibt?

In gewisser Weise ist es gut, dass wir so stark auf das Leiden der Welt reagieren. Das bedeutet, dass wir unsere selbstbezogene Sicht abgelegt haben – ganz gleich, wie kurz dies auch sein mag – und unsere Herzen für den Schmerz anderer geöffnet haben. Wenn wir einfach nur bei diesem Schmerz bleiben könnten, anstatt in unsere Gedanken und Urteile zu flüchten, dann bräuchten wir das Leben nicht in akzeptable und inakzeptable Stücke zu zerlegen. Wir könnten das Ganze umfassen, das Leben, wie es wirklich ist. Stattdessen fühlen sich die meisten von uns von dem Schmerz und dem Leiden anderer überwältigt.

Indem wir meditieren und uns einfach mit uns selbst konfrontieren, schaffen wir die Möglichkeit, die Welt zu verändern und sie allmählich zu einem besseren Ort zu machen. Wir verbrauchen enorm viel Energie damit, die Illusion eines separaten Egos aufrechtzuerhalten. Diese ganze Energie steht uns zur Verfügung. Von den Ketten der Selbstbezogenheit befreit, kann unser Herz-Geist sich zu seinem wahren Potenzial ausdehnen, und wir können unser Leben zum Wohle der Welt leben.

 

Meditationsabend am 30. Juli 2023

BEWUSSTES UND LEERES SEIN

Es gibt drei Zustände des Geistes. Der erste ist Bewusstsein mit Inhalt. Dein Verstand beschäftigt sich ständig mit irgendeinem Inhalt – ein Gedanke regt sich, ein Wunsch taucht auf, Ärger, Gier, Ehrgeiz. Ständig sind irgendwelche Inhalte in deinem Bewusstsein. Das Bewusstsein ist nie leer, nie unbeschäftigt. Es ist ständig in Betrieb – Tag und Nacht. Wenn du wach bist, nennst du es Denken, wenn du schläfst, nennst du es Träumen, aber es ist der gleiche Vorgang. Das Träumen ist nur ein bisschen schlichter; es ist ein Denken in Bildern.

Es benutzt keine Konzepte, es benutzt Bilder. Es ist unkomplizierter – wie bei kleinen Kindern; sie denken in Bildern. Darum haben die Bücher für kleine Kinder große, bunte Bilder. Durch Bilder lernen sie die Wörter. In der Nacht wirst du wieder ursprünglicher. Dann vergisst du deine ganze Kultivierung vom Tag und fängst wieder an, in Bildern zu denken – aber es ist das Gleiche. Und die Einsichten des Psychoanalytikers haben ihren Wert – er betrachtet deine Träume. Darin ist mehr Wahrhaftigkeit, weil du im Traum primitiver bist und niemandem etwas vorzumachen versuchst; darin bist du authentischer.

Am Tag umgibst du dich mit einer Persönlichkeit, hinter der du dich versteckst – Schichten um Schichten von Persönlichkeit. Es ist sehr schwierig, den echten Menschen zu finden. Man muss sehr tief danach graben; es tut weh, und die Person leistet Widerstand. Aber in der Nacht legst du mit deinen Kleidern auch die Persönlichkeit ab. Du bist nicht mehr draußen in der Welt, du bist in deinem absolut privaten Bereich. Dort hast du es nicht nötig, dich zu verstecken oder etwas vorzutäuschen.

Darum versucht der Psychoanalytiker, in deine Träume zu schauen, weil sie viel deutlicher zeigen, wer du bist. Es ist das gleiche Spiel des Verstandes, nur in verschiedenen Sprachen. Das Spiel unterscheidet sich nicht. Dies ist der gewöhnliche Zustand des Bewusstseins – Bewusstsein mit Inhalt, Verstand plus Inhalt.

Der zweite Zustand des Geistes ist Bewusstsein ohne Inhalt – das ist Medita-tion. Du bist vollkommen wach und aufmerksam, und es entsteht eine Lücke, eine Pause, in der kein Gedanke auftaucht. Du bist ohne Gedanken. Du schläfst nicht, du bist wach – aber da ist kein Gedanke. Das ist Meditation. Den ersten Zustand nennen wir „denken“, den zweiten „meditieren“.

Und dann gibt es noch einen dritten Zustand. Wenn der Inhalt verschwunden ist, wenn alle Objekte aus dem Bewusstsein verschwunden sind, kann das Subjekt nicht lange weiter existieren, denn Subjekt und Objekt gehören zusammen; sie bedingen sich gegenseitig. Wenn das Subjekt allein übrig ist, kann es noch ein bisschen verweilen, einfach weil es noch Energie hat.

Aber ohne Inhalt kann die Bewusstheit nicht länger bestehen; sie wird nicht mehr benötigt, denn Bewusstheit ist immer Bewusstheit von etwas. Wenn jemand sagt, er sei sich bewusst, kann man fragen, worüber oder wessen er sich bewusst sei. Dann wird er sagen, dass er sich dieser oder jener Sache bewusst sei. Ein Objekt ist nötig, damit das Subjekt existieren kann. Sobald die Objekte verschwunden sind, verschwindet bald auch das Subjekt.

Zuerst verschwinden die Inhalte, dann verschwindet das Bewusstsein darüber. Dieser dritte Zustand heißt Samadhi – kein Inhalt, kein Bewusstsein von irgendetwas. Du musst aber wissen, dass dieser Zustand ohne Inhalt, dieses Bewusstsein ohne Objekt keine Bewusstlosigkeit ist. Es ist ein Zustand von Überbewusstsein, von transzendentalem Bewusstsein. Darin ist sich das Bewusstsein nur noch seiner selbst bewusst. Das Bewusstsein ist auf sich selbst gerichtet – der Kreis ist geschlossen. Du bist nach Hause gekommen. Dies ist der dritte Zustand, Samadhi. Und diesen dritten Zustand hat Buddha Shunyata genannt, die Leere.

Zuerst gibst du die Inhalte auf – du wirst halb leer. Dann gibst du die Bewusstheit auf – du wirst vollkommen leer. Und diese Voll-Leere ist das Schönste, was dir zuteil werden kann, der allergrößte Segen. In dieser Nichtheit, in dieser Leere, in dieser Ichlosigkeit, dieser Shunyata, ist vollkommene Sicherheit und Stabilität.

Sicher wundert dich das: Vollkommene Sicherheit und Geborgenheit, wenn du nicht bist? Alle Ängste verschwinden – denn was ist die Grundangst? Die Grundangst ist die Angst vor dem Tod. Alle anderen Ängste nur spiegeln diese Grundangst wider. Alle anderen Ängste lassen sich auf diese eine Angst zurückführen – die Angst vor dem Tod, vor der Nicht-Existenz: Eines Tages werde ich nicht mehr da sein, eines Tages muss ich sterben.

Jetzt existiere ich, doch der Tag kommt, an dem ich nicht mehr existiere. Das fürchtet jeder, das macht Angst. Um diese Angst zu vermeiden, fangen wir an, uns so zu verhalten, dass wir möglichst lange am Leben bleiben. Wir versuchen, unser Leben sicher zu machen. Wir gehen Kompromisse ein, sichern uns mehr und mehr ab. Wir schützen uns, wo wir nur können – alles wegen dieser Angst. Sie lähmt uns. Denn je mehr du dich schützt, desto weniger lebendig wirst du sein.

Das Leben besteht aus Herausforderungen, in Krisen, und das Leben braucht Unsicherheit. Leben gedeiht auf dem Nährboden der Unsicherheit. Wenn du ungesichert bist, erlebst du dich lebendiger und wacher. Wenn du deine innere Leere erfahren hast, verschwindet alle Angst; denn der Tod hat sich bereits ereignet. In dieser Leere bist du „gestorben“. In dieser Leere hast du dich aufgelöst. Wie könntest du jetzt noch Angst haben? Wovor? Vor wem? Wenn alles verschwunden ist, bleibt nur ein klarer Himmel übrig. Dieser klare Himmel ist Samadhi, das ist Nirvana.

Auszüge aus „Angst“ von Osho, Goldmann Arkana

 

Meditationsabend am 02. Juli 2023

KEIN ICH, KEIN PROBLEM

Die spirituelle Praxis konfrontiert uns mit dem Geheimnis unserer Identität. Wir sind in einem menschlichen Körper geboren. Was ist das für eine Kraft, die unser Leben ermöglicht und uns Form gibt? Die großen spirituellen Lehren der Welt behaupten, dass wir nicht seien, was wir zu sein glauben. Persische Mystiker sagen, wir seien Funken des Göttlichen, und christliche Mystiker sagen, wir seien von Gott erfüllt. – Wir seien eins mit allen Dingen, sagen andere.

Als der Buddha in der Nacht seiner Erleuchtung auf die Frage nach der Identität stieß, kam er zu der radikalen Erkenntnis, dass wir nicht als getrennte Wesen existieren. Er durchschaute die menschliche Neigung, sich mit einer begrenzten Wahrnehmung der Existenz zu identifizieren, und entdeckte, dass dieser Glaube an ein individuelles kleines Ich oder Selbst eine Grundillusion ist, die Leiden erzeugt und uns von der Freiheit und dem Mysterium des Lebens fernhält.

In seinen Lehren beschrieb der Buddha uns Menschen als ein Bündel von fünf Prozessen, deren Charakteristikum ständige Veränderung ist: die Vorgänge im Körper, Gefühle, Wahrnehmungen, Reaktionen und schließlich das Bewusstseins, das all dies erlebt. Unser Gefühl von einem Ich entsteht immer dann, wenn wir uns mit den Mustern dieser Abläufe identifizieren. Dieser Prozess der Identifikation, um von »ich«, »mir« und »mein« sprechen zu können, entzieht sich üblicherweise unserer Wahrnehmung.

Wir können uns mit unserem Körper, unseren Gefühlen oder Gedanken identifizieren oder auch mit Vorstellungen oder Verhaltensweisen. So identifizieren wir uns etwa mit der Rolle des Mannes oder der Frau, mit der des Elternteils oder der des Kindes. Wir benützen unsere Familiengeschichte, unsere Gene und unser Erbe, um zu sein, wer wir sind.

Ebenso können wir uns auch auf unseren Intellekt beziehen oder unser astrologisches Zeichen als Identität setzen. Wenn Taoisten und Hindus davon sprechen, mit dem Wahren Selbst jenseits aller Identität zu verschmelzen, wenn Buddha von Leerheit und Nicht-Selbst spricht, was meinen sie dann damit?

Es gibt viele Möglichkeiten, um die Leerheit des Selbst zu erkennen. Wenn wir still und aufmerksam sind, können wir ganz unmittelbar wahrnehmen, dass nichts in der Welt wirklich unser eigen sein kann. Ganz offensichtlich besitzen wir keine äußeren Dinge; wir haben eine bestimmte Beziehung zu unserem Auto, unserem Heim, unserer Familie, unserem Beruf.

Doch wie immer diese Beziehung sein mag, wir »haben« sie auf jeden Fall nur für eine bestimmte Zeit. Am Ende werden die Dinge, Menschen oder Aufgaben sterben bzw. sich verändern, oder wir verlieren sie. Nichts ist davon ausgenommen.

Auch unser Körper folgt seinen eigenen Gesetzen. Er ist ein „Sack voller Knochen und Flüssigkeiten“, den man nicht besitzen kann. Er altert, wird krank oder verändert sich, weil es seiner Natur entspricht — auf eine Weise, die uns vielleicht gar nicht wünschenswert erscheint. Je genauer wir hinschauen, desto deutlicher sehen wir, dass wir nichts besitzen, innen wie außen.

Einem anderen Aspekt der Leerheit begegnen wir, wenn wir beobachten, wie alles aus dem Nichts entsteht, aus dem Leeren kommt und ins Leere zurückkehrt. Alle unsere Worte von gestern sind verschwunden. Und wohin sind die vergangene Woche, der vergangene Monat, unsere Jugend gegangen?

Sie entstehen, tanzen ein bisschen, und nun sind sie verschwunden, wie die achtziger Jahre, das neunzehnte Jahrhundert, die alten Römer, die Pharaonen und so weiter. Jede Erfahrung vollzieht sich in der Gegenwart, führt ihren Tanz auf und verschwindet wieder. Sie tritt nur vorübergehend in Erscheinung, in einer bestimmten Form und für kurze Zeit; dann endet diese Form und eine neue Form ersetzt sie, von einem Augenblick zum anderen.

Wenn wir in der Meditation unsere Aufmerksamkeit auf unseren Körper oder unseren Geist richten, erleben wir immer mehr Raum und immer weniger Verfestigung. Dann ist Erfahrung etwas Ähnliches wie die Partikel in der modernen Physik, ein Muster, das nicht ganz fest ist, das sich ständig verändert. Sogar die Wahrnehmung, die der Beobachter von sich selbst hat, verändert sich; unsere Perspektiven verschieben sich von einem Augenblick zum anderen.

Wir sind ein sich ständig verändernder Prozess, keine festen Wesen. Innere Reinigung, Freundlichkeit und Aufmerksamkeit können unsere Gewohnheiten bessern, aber keine noch so große Selbstverleugnung oder Selbstkasteiung kann uns von unserem Ego befreien, weil es ein solches nie gegeben hat, nur unsere Identifikation lässt uns das glauben.

Als der amerikanische Psychologe und Meditationslehrer Jack Kornfield einmal in Sri Lanka einen alten Meister nach der Essenz des Buddhismus fragte, lachte der und wiederholte dreimal: „Kein Ich, kein Problem.“

Auszüge aus „Frag den Buddha und geh den Weg des Herzens“ von Jack Kornfield

 

Meditationsabend am 18. Juni 2023

IM LICHTE DES BEWUSSTSEINS

Man kann Meditation als formale Praxis betreiben, ein- oder zweimal am Tag für jeweils eine halbe Stunde, aber das eigentliche Ziel ist es, frisches Bewusstsein in alles hineinzutragen, was wir tun. Ob ich gehe oder stehe, sitze oder liege, ausruhe oder arbeite, allein oder in Gesellschaft bin – stets versuche ich diese gleiche Aufmerksamkeit walten zu lassen. Wenn ich also Brötchen hole, werde ich das Rascheln der Blätter auf dem Gehsteig ebenso wahrnehmen wie meinen verletzten Ärger über eine respektlose Bemerkung in der U-Bahn.

Bewusstheit ist ein Prozess des zunehmenden Annehmens unserer selbst. Sie ist weder kühle Zergliederung des Lebens noch das Mittel, mit dem man sich vollkommen macht. Was sie wahrnimmt, das umfängt sie. Es gibt nichts, was dieses Annehmens unwürdig wäre.

Das Licht des Bewusstseins wird zweifellos auch auf Dinge fallen, die wir lieber nicht sehen würden. Erst wenn wir in der Meditation ganz bewusst auf den Atem achten, merken wir, wie komplex und subtil die damit verbundenen Empfindungen sind, und tauchen bei jedem Ein- und Ausatmen tiefer in die filigrane Vielfältigkeit dieses Geschehens ein.

Wenn wir ruhig und gesammelt und gänzlich empfänglich für den Atem sind, können wir unser Gewahrsein auf andere Körperregionen ausdehnen, z.B. vom Scheitel, über den ganzen Schädel, den Hals, dann durch Rumpf und Gliedmaßen bis zu den Zehenspitzen.

Stellen wir uns die Dinge nicht bildhaft vor, sondern erleben sie sinnlich, als Wärme oder Kälte, Schweregefühl, Spannung, Bewegung, Kribbeln, Jucken. Beachten wir empfindungslose Zonen und erkunden auch diese.

Das mentale Bild unseres Körpers kann idealisiert und fixiert sein (ungefähr unserer Selbstdarstellung im Spiegel entsprechend), aber die sinnliche Erfahrung des Körpers besteht aus einem komplexen Geflecht von Prozessen, das sich keinen Augenblick lang gleichbleibt. Und das sind nicht einfach physische Prozesse.

Zusammengenommen spiegeln sie unsere augenblickliche emotionale Verfassung wider – zufrieden, traurig, obenauf, deprimiert. An bestimmten Stellen (Herz, Kehle, Unterbauch, Sonnengeflecht) pflegen sich die Emotionen ganz besonders zu konzentrieren.

Jede geistige Verfassung ist auch an entsprechenden körperlichen Empfindungen zu erkennen – als wäre der Körper ein Baum voller huschender Gefühle, flüchtiger Gedanken und überraschender Ideen.

Und dann – plötzlich haben wir zu all dem keine Verbindung mehr. Eine Erinnerung, eine Fantasie, eine Befürchtung hat uns ins lockende Halbdunkel der Nichtbewusstheit entführt. Ein innerliches Blinzeln, und schon ist der ganze faszinierende Zauber der Empfindungen verschwunden.

Ein winziger Augenblick der Unachtsamkeit lässt eine Welle von Impulsen herein, die uns wegspült. Minuten vergehen, bevor uns auch nur auffällt, dass wir uns „in einem anderen Film“ befinden.

Mit einem Ruck kommen wir zurück: Die Gedanken stieben nur so (obwohl wir möglicherweise schon vergessen haben, weshalb), das Herz pocht, die Stirn ist feucht. Verunsichert tasten wir uns zum Atem zurück.

Hat der Atem sein Gleichmaß gefunden, können wir die Bewusstheit wieder auf Körperempfindungen, Gefühle, Emotionen, Gedanken ausdehnen, bis wir innerlich so ruhig und klar sind, dass wir schon die ersten Anzeichen ablenkender Impulse bemerken.

Doch das Bemerken genügt nicht. Wir müssen uns entschlossen alles Schwelgen in Erinnerungen und Fantasien versagen, und sei es auch nur für ein paar Sekunden. Sobald wir uns der Ablenkung für einen kurzen Moment überlassen, wird sie uns mitreißen.

Achtsamkeit richtet sich nicht nur nach innen. Wenn wir ruhig und klar genug sind, weiten wir die Aufmerksamkeit auf unsere Umgebung aus: das Gewirr der ständig dem Ohr präsenten Laute; das selbst durch geschlossene Lider wahrnehmbare Spiel von Licht, Schatten und Farbe; Gerüche, die der Nase zugeweht werden; ein noch am Gaumen haftender Geschmack.

Halte bei deinem täglichen Tun gelegentlich inne; lass los von den Sorgen, Fantasien und Plänen, die dich gerade beschäftigen mögen, und nimm die sinnliche Unmittelbarkeit des Augenblicks in dich auf: das tiefe Rumpeln eines Lastwagens, durchschnitten vom erschreckten Zetern einer Amsel.

Meditieren heißt nicht, den Geist leer machen und die Dinge in tranceartiger Erstarrung anglotzen. Nichts von Bedeutung wird sich je zeigen, wenn man irgendeinen Gegenstand nur leeren Blickes anstarrt, wie lange auch immer. Meditieren heißt, mit höchster Sensibilität jeder Wahrnehmung nachzuspüren, jedem Geräusch, jedem Lufthauch und jedem Lichtschimmer.

Je stiller der Geist ist, desto hautnäher wird die Fülle des Lebens. Vom Aufsprudeln der Gedanken bis zum Zusammenbruch von Weltreichen – stets im Wandel und unaufhaltsam bewegt sich diese Welt weiter, getrieben von Umständen, Richtungswechseln aufgrund von Entscheidungen vollziehend, durch Zu- und Zwischenfälle aufgehalten.

Wenn sich die Bewusstheit jedem Detail der Erfahrung mit dem gleichen forschenden Blick zuwendet, macht sie mir sichtbar, dass ich auch ein Teil davon bin: dass es nirgendwo etwas gibt, worauf ich bauen kann, nichts, was ich als »ich« und »mein« bezeichnen könnte.

Auszüge aus „Buddhismus für Ungläubige“ von Stephen Batchelor