Schwerpunkt-Thema

B e w u s s t e s   S e i n

Meditationsabend am 14. Mai 2023

COOL WIE COLIMBIN

Der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel erzählt eine Kindergeschichte für Erwachsene: Am Hof (des Königs), so heißt es da, gab es starke Leute und gescheite Leute, der König war ein König, die Frauen waren schon und die Manner mutig, — nur Colombin war nichts. Wenn jemand sagte: „Komm, Colombin, kämpf mit mir“, sagte Colombin: „Ich bin schwächer als du.“ Wenn jemand sagte: „Wieviel gibt zwei mal sieben?“, sagte Colombin: „Ich bin dümmer als du.“ … Und wenn der König fragte: „Colombin, was willst du werden?“, antwortete Colombin: „Ich will nichts werden, ich bin schon etwas, ich bin Colombin.”

Colombin geht durch die Welt wie einer von einem anderen Stern, so bewegt er sich unter den Menschen, die ihn herausfordern, ihn prüfen und befragen, die sehen wollen, ob er etwas vorweisen kann und etwas will. Wer von uns wäre so cool wie Colombin? Ist das überhaupt möglich, wenn man erwachsen ist und Verantwortung hat? Wenn man etwas wissen und etwas wollen muss, um gehört und anerkannt zu werden? Wenn man zeigen soll, was man kann, und sich fürchten muss, dass Blößen und Lücken sichtbar werden? Colimbin strahlt eine Gelassenheit aus und eine Unabhängigkeit vom Urteil der Leute, um die man ihn beneiden kann.

Man hat uns alle nur denkbaren Muster und Zwange mitgegeben. Schließlich hat man uns auch noch beigebracht, Ehrgeiz zu entwickeln und eingebläut, dass das Leben mit einem gnadenlosen Konkurrenzkampf, mit Konflikten, ja mit Krieg und Gewalt identisch sei. Demnach sei die einzige Freude im Leben der Erfolg, das einzige Glück, so viel Geld wie möglich zu besitzen, und wir könnten auch nur dann wirklich zufrieden sein, wenn wir Karriere gemacht hätten. So wurde und wird heute noch jungen Menschen schon frühzeitig eine Fülle von Ideen in den Kopf gesetzt, bis sie den neurotischen Charakter dieser Ideenproduktion endlich durchschauen.

Wenn uns z. B. jemand fragt, wer wir seien, antworten wir häufig: Protestant, Jude oder Katholik, Marxist, Idealist oder Atheist, Deutscher, Franzose oder Amerikaner, so dass es durchaus logisch ist, dass wir erst einmal von diesen (Wahn-)Ideen dekonditioniert werden müssen, bevor wir zu unseren eigenen Erfahrungen durchbrechen können. Das kann, aber muss nicht notwendig die Aufgabe eines Therapeuten sein: uns dabei zu helfen, erst einmal wieder völlig leer zu werden, indem wir alle Ideologien von uns abstreifen und erkennen, dass wir auch ohne irgendeine höhere Idee leben können.

Es ist geradezu verhängnisvoll, dass wir uns immer wieder abstrakten Ideen verpflichtet fühlen, wie etwa der Idee der Vollkommenheit, weil wir, wie Zen lehrt, bereits vollkommen sind! Jeder von uns kommt vollkommen zur Welt und lernt aufgrund der Erziehung dann, sich erst vervollkommnen zu müssen! Dieses Streben nach Vollkommenheit entspricht eher einem komplizierten Leben, und ist allein eine Idee unseres Kopfes. Dieser Kopf ist darauf programmiert, ständig mit uns, trotz seiner erbärmlichen Vielzahl von Niederlagen, zu versuchen, anders zu sein oder anders sein zu wollen, als wir tatsächlich sind. So versucht eben der eine, ein Christ zu werden, der andere ein Moslem, der eine ein Buddhist und der andere ein Marxist: nur ist er damit niemals er selbst!

Zen lehrt auch hier wieder: Die Idee, anders sein zu wollen, als wir sind, spaltet uns; sie ist im Grunde unser eigentliches Unglück. Einfach nur der zu sein, der man ist, und dies in einer Welt, die ständig außergewöhnlich fortschrittlich sein will, ist sicher das Schwerste. Nur natürlich zu sein, spontan, bewusst, im Hier und Jetzt entspannt zu leben, ohne die Gegenwart der Zukunft oder der Vergangenheit zu opfern, ist in Wirklichkeit das Außergewöhnliche und Übermenschliche.

Die Idee, dass wir wie Jesus oder wie Buddha leben sollten, ist unser Unglück. Keiner von uns kann Jesus oder Buddha sein, da es unserer Individualität und unserer Freiheit widerspricht, uns wie Kopien durch die Welt zu bewegen. Jesus, der Nazarener, war genauso einmalig wie der Buddha, wie jede einzelne Pflanze, jedes einzelne Tier, jeder einzelne Mensch. Die Natur wiederholt sich nicht. Wiederholte sie sich, hieße dies, dass sie sich bereits erschöpft hatte.

Dass uns unser Wert angeblich nicht mitgegeben wurde, wurde und wird uns beigebracht. Folglich muss er erst unter Beweis gestellt werden. Daraus resultiert die tiefe Feindschaft, der tief sitzende Selbsthass, den fast jeder ständig mit sich herumträgt. Denn es sind natürlich nur wieder wenige Menschen, die in unserer Wettbewerbsgesellschaft Erfolg haben und Erfolg haben können. Millionen von Menschen fühlen sich unwert und reden folglich auch ständig vom unwerten, ja sinnlosen Leben, das sie zu fristen hätten.

In Wirklichkeit ist niemand unterlegen und niemand überlegen, weil jeder Mensch einzigartig ist, so dass jeder Vergleich von vorneherein absurd ist. Nichts ist verloren oder gewonnen, nichts muss gewonnen werden, niemand muss aufsteigen oder absteigen, vorankommen oder zurückfallen, da außer im Bereich der bloßen Erscheinungen, den wir Realität nennen, alles und jedes längst vollkommen ist.

Das lehrt uns Zen.

 

Meditationsabend am  30. April  2023

DIE KRAFT DER LIEBE 

„Als ich die Relativitätstheorie vorschlug, verstanden mich nur sehr wenige Menschen und was ich Dir jetzt schreibe, wird ebenso auf Missverständnisse und Vorurteilen in der Welt stoßen. Ich bitte Dich dennoch, dass Du dies, die ganze Zeit die notwendig ist, beschützt. Jahre, Jahrzehnte, bis die Gesellschaft fortgeschritten genug ist, um das, was ich Dir hier erklären werde, zu akzeptieren“.  

Mit diesen Worten beginnt ein Brief, in dem Albert Einstein seiner Tochter Lieserl die „universelle Energie“ erklärt. 

„Es gibt eine extrem starke Kraft, für die die Wissenschaft bisher noch keine Formel gefunden hat. Es ist eine Kraft, die alle anderen beinhaltet, sie regelt und die sogar hinter jedem Phänomen steckt, das im Universum tätig ist und noch nicht von uns identifiziert wurde.  

Diese universelle Kraft ist die Liebe. Wenn die Wissenschaftler nach einer einheitlichen Theorie des Universums suchten, vergaßen sie bisher diese unsichtbare und mächtigste aller Kräfte. 

Liebe ist Licht, da sie denjenigen erleuchtet, der sie aussendet und empfängt. Liebe ist Schwerkraft, weil sie einige Leute dazu bringt, sich zu anderen hingezogen zu fühlen. Liebe ist Macht, weil sie das Beste, das wir haben, vermehrt und nicht zulässt, dass die Menschheit durch ihren blinden Egoismus ausgelöscht wird. Liebe zeigt und offenbart. Durch die Liebe lebt und stirbt man. Liebe ist Gottund Gottist die Liebe. 

Diese Kraft erklärt alles und gibt dem Leben einen Sinn. Dies ist die Variable, die wir zu lange ignoriert haben, vielleicht, weil wir vor der Liebe Angst haben. Sie ist schließlich die einzige Macht im Universum, die der Mensch nicht nach seinem Willen steuern kann.  

Um die Liebe sichtbar zu machen, habe ich eine meiner berühmtesten Gleichungen genutzt. Wenn wir anstelle von E = mc2 die Energieakzeptieren, um die Welt durch Liebe zu heilen, kann man durch die Liebe multipliziert mal Lichtgeschwindigkeit hoch Quadrat zu dem Schluss kommen, dass die Liebe die mächtigste Kraft ist, die es gibt.  

Denn sie hat keine Grenzen. Nach dem Scheitern der Menschheit in der Nutzung und Kontrolle über die anderen Kräfte des Universums, die sich gegen uns gestellt haben, ist es unerlässlich, dass wir uns von einer anderen Art von Energieernähren.  

Wenn wir wollen, dass unsere Art überleben soll, wenn wir einen Sinn im Leben finden wollen, wenn wir die Welt und alle fühlenden Wesen, die sie bewohnen, retten wollen, ist die Liebe die einzige und die letzte Antwort. 

Vielleicht sind wir noch nicht bereit, eine Bombe der Liebe zu bauen, ein Artefakt, das mächtig genug ist, allen Hass, Selbstsucht und Gier, die den Planeten plagen, zu zerstören. Allerdings trägt jeder Einzelne in sich einen kleinen, aber leistungsstarken Generator der Liebe, dessen Energie darauf wartet, befreit zu werden. 

Wenn wir lernen, liebe Lieserl, diese universelle Energie, zu geben und zu empfangen, werden wir herausfinden, dass die Liebe alles überwindet, alles transzendiert und alles kann, denn die Liebe ist die Quintessenz des Lebens.  

Ich bedauere zutiefst, nicht in der Lage gewesen zu sein, das auszudrücken, was mein Herz enthält: mein ganzes Leben hat es leise für Dich geschlagen. Vielleicht ist es nun zu spät, mich zu entschuldigen, aber da die Zeit relativ ist, muss ich Dir wenigstens jetzt sagen, dass ich Dich liebe und dass ich durch Dich zur letzten Antwort gekommen bin. 

Dein Vater, Albert” 

 

Meditationsabend am  16. April  2023

DER WEG IN DIE TIEFE INNERE STILLE

Bis zu einem gewissen Grad können wir uns alle konzentrieren. Normale Formen der Konzentration sind erforderlich, wenn wir ein Buch lesen oder eine Mahlzeit kochen. Da Konzentration eine neutrale Qualität hat, lässt sie sich auf heilsame wie auf unheilsame, ja schädliche Zwecke gleichermaßen anwenden. Ein Dieb oder Einbrecher braucht ebenfalls Konzentration.

Je besser wir uns konzentrieren können, desto kraftvoller ist unsere Beständigkeit, desto besser können wir uns fokussieren. Fokussieren bedeutet »scharfstellen«, wir rücken also eine Sache ins Zentrum unseres Interesses. In der Meditation bringt die systematische Entwicklung der Konzentrationsfähigkeit Zugang zu tiefen Einsichten und Bewusstseinszuständen.

Die meditative Konzentration wächst, wenn wir uns auf eine Erfahrung fokussieren und alles andere ausschalten. Unser Bewusstsein ist dann gleichsam »absorbiert«. Es verschmilzt mit seiner Aufgabe, dem Meditationsobjekt. Dieses kann etwas ganz Simples sein. Wir können uns auf eine Kerzenflamme konzentrieren, auf den Körper oder ein Gefühl. In der Regel konzentrieren wir uns auf den Atem und lassen Ablenkungen jedweder Natur vorübergehen.

Für den modernen, an Ablenkung gewöhnten Geist ist dies alles andere als einfach. Dennoch können wir lernen, uns zu konzentrieren, auch wenn dies am Anfang schwierig erscheinen mag. Versuchen wir uns – wann immer möglich – über längere Zeit auf unser Objekt zu konzentrieren, wird das Herumwandern des Geistes allmählich weniger. Der Geist setzt sich, wird ruhiger und beständiger, er lässt sich gleichsam auf dem Meditationsobjekt nieder.

Dieser Prozess wird in buddhistischen Texten »Reinigung« genannt. Dabei geht es nicht um spirituelle oder gar moralische »Sauberkeit«, sondern um die Erfahrung des Loslassens in Körper und Geist. Reinigung bedeutet das Loslassen von Spannungen, Ablenkungen, Kummer und Konflikten. Letztendlich bedeutet es, den Geist „leer“ machen.

Worum es dabei geht, wird verständlich, wenn wir einmal versuchen, unseren Geist zehn Minuten lang auf ein und dieselbe Sache zu richten. Stellen wir uns vor, wir richten unsere Aufmerksamkeit beständig auf den Atem oder auf ein Bild. Die meisten Menschen machen schon während der ersten Minute die Erfahrung, dass ihr Geist mehrere Male abschweift.

In der zweiten und dritten Minute kommen noch mehr Ablenkungen, noch mehr Gefühle auf. Dann wird der Körper ruhelos. Er fängt an zu schmerzen. Am Ende der zehn Minuten kann man sich glücklich schätzen, wenn man den Geist nur zehn Prozent der Zeit tatsächlich auf das Meditationsobjekt gerichtet hat.

Wenn wir uns an die meditative Konzentration machen, melden sich Gedanken, Konflikte, Pläne und ungelöste emotionale Probleme und treten uns in den Weg. Körperliche Anspannung, Ruhelosigkeit, Erinnerungen, Ängste, Instinkte, Triebe – alles versucht, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Im Reinigungsprozess aber wird dies alles losgelassen, bis der Geist sich setzt und ruhig wird, zufrieden und unerschütterlich.

Der Schlüssel zur Entwicklung der geistigen Sammlung ist die Kontinuität der Achtsamkeit. Ein einfaches Bild für diesen Vorgang ist das Erzeugen von Feuer durch Reibung von zwei Holzstücken. Würden wir die Hölzer nur wenige Minuten reiben und bei Ermüden eine Pause einlegen, dann wieder eine Weile reiben, uns ablenken lassen und aufhören, dann wieder ein paar Augenblicke reiben und uns in irgendwelchen Gedanken verlieren, würde die Hitze nie ausreichen, einen zündenden Funken zu erzeugen.

Ebenso können wir, wenn wir immer nur ein paar Minuten lang achtsam sind und keine kontinuierliche Achtsamkeit aufbringen, nicht die Kraft entwickeln, in die Tiefe vorzudringen. Wenn wir üben, einen ununterbrochenen Strom der Achtsamkeit zu entwickeln, werden die Hemmnisse für die Sammlung in Schranken gehalten und der Geist wird ruhig und klar.

Der Prozess der Reinigung kann Tage und Monate dauern. Unsere Konzentration wächst ja nicht dadurch, dass wir unsere Zerstreuungen niederkämpfen, sondern indem wir sie achtsam erkennen – aufmerksam, aber ohne Anhaftung – und dann loslassen, bis sie sich von selbst lösen bzw. ihre Umklammerung lockern. Nachdem wir dies Tausende von Malen wiederholt haben, fühlen Geist und Herz sich allmählich »reiner« an. Sie haben sich aus der Umklammerung der Ablenkungen gelöst und ruhen nun unerschütterlich auf dem Meditationsobjekt.

Auf diesem spirituellen Weg können wir uns systematisch der mystischen Dimension des Geistes annähern. Wenn die Konzentration weiter zunimmt, wird unsere innere »Sehkraft« stärker und es kommt zur Erfahrung von Lichthaftigkeit. Jede kontemplative Tradition, vom Christentum bis zum Taoismus, beschreibt diese Erfahrung des inneren Lichts. Wir dürfen das durchaus wörtlich verstehen.

Wenn wir den Prozess der Reinigung durchlaufen haben und uns folglich konzentrieren können, werden Körper, Geist und Raum als lichterfüllt oder lichthaft erscheinen. Mit dem Erleben des inneren Lichts gehen einher: eine Erfahrung der unendlichen Weite und eine tiefe innere Stille.

 

Meditationsabend am  12. März  2023

DIE ALLGEGENWÄRTIGE BEWUSSTHEIT

Das reine Selbst ist immer-gegenwärtiges Bewusstsein, auch wenn wir dessen Existenz bezweifeln. In dieser einfachen Wahrnehmung erkenne ich:

Ich bin mir meines Körpers bewusst, also bin ich nicht nur mein Körper;  ich bin mir meines Geistes bewusst, also bin ich nicht nur mein Geist; ich bin mir meines Selbst bewusst, also bin ich nicht nur mein Selbst.

Vielmehr nehme ich meinen Körper, meinen Geist, mein Selbst wahr. Das ist wahrhaft faszinierend:Ich kann meine Gedanken sehen, also bin ich nicht diese Gedanken; ich bin mir der Köperempfindungen bewusst, also bin ich nicht diese Empfindungen; ich bin mir meiner Gefühle bewusst, also bin ich nicht nur diese Gefühle.

Irgendwie bin ich das Subjekt, das dies alles wahrnimmt. Doch wer oder was nimmt wahr? Die Traditionen behaupten, das, was wahrnimmt, ist Geist, ist Gott, ist Buddha-Natur in ihrer Ganzheit.

In anderen Worten: Die letzte, unbedingte Wirklichkeit ist nichts, was gesehen werden kann, sondern ist das, was immer-gegenwärtig sieht. Also ist dieses Bewusstsein nicht schwer zu erreichen, aber unmöglich zu vermeiden.

Das, was sieht, kann nicht gesehen werden. Hören wir also auf, uns mit diesem oder jenem zu identifizieren. Dann bekommen wir eine Ahnung von der unendlichen Freiheit. Wir werden dann bemerken, dass diese einfache, immer-gegenwärtige Wahrnehmung vollkommen mühelos ist.

Keinerlei Mühe macht es, Laute zu hören, Dinge zu sehen, die kühle Brise zu fühlen, und wir ruhen einfach in dieser mühelosen Wahrnehmung. Und wieder: Dieser Zustand des zeitlosen Gegenwärtigsten ist nicht schwer zu erreichen, aber unmöglich zu vermeiden.

Dinge, die gesehen werden, sind angenehm oder schmerzhaft, beglückend oder traurig, heiter oder beängstigend, – Aber das, was diese Dinge sieht, ist weder beglückend noch traurig, weder heiter noch beängstigend, sondern einfach frei.

 Wenn ich ruhe als das, was zeitlos wahrnimmt, ist es um die große Suche geschehen. Die große Suche ist der Feind des immer-gegenwärtigen Geistes, eine brutale Lüge angesichts einer freundlichen Unendlichkeit.

Die große Suche ist die Suche nach einer letzten Erfahrung, nach einer großartigen Vision, einem Paradies der Freuden, einer nie-endenden guten Zeit, einer machtvollen Einsicht, eine Suche nach Gott, nach der Göttin, nach dem Geist – aber Geist ist kein Objekt: Geist kann nicht begriffen, erreicht, gesucht oder gesehen werden – Geist ist das, was immer-gegenwärtig sieht.

Wenn ich kein Objekt bin, bin ich die Gottheit selbst. Fange ich an zu suchen, höre ich auf, Gott zu sein; und die Katastrophe kann nicht dadurch behoben werden, dass ich nach noch mehr Objekten suche.

Es geht darum, die immer-währende Bewusstheit klar zu erkennen. Das kostet keine Mühe. Ich bemerke einfach, dass es immer eine Wahrnehmung des Himmels gibt; ich bemerke einfach, dass es immer Wahrnehmung der Wolken gibt; ich bemerke einfach, dass das immer-währende Wahrnehmen nicht schwer zu erreichen ist, aber unmöglich zu vermeiden.

Wenn du dies verstehst, ruhe in dem, was versteht und genau das ist Geist. Wenn du nicht verstehst, ruhe in dem, was nicht versteht  – und genau das ist Geist.

 Ken Wilber

 

Meditationsabend am  26. Februar 2023

IM REINEN GEWAHRSEIN

Zuerst denken wir, dass wir unser Geist selber seien; dann stellen wir fest, dass wir einen Geist haben, und schließlich kommen wir zu der Einsicht, dass all unsere Gedanken nur von der großen Datenbank des Bewusstseins geliehen sind und nie wirklich unsere eigenen waren.

Insgesamt gibt es sieben verschiedene Bewusstseinsarten. Die ersten fünf entsprechen unseren Sinnen: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen. Die sechste ist das Denkbewusstsein und dann gibt es noch das Bindungsbewusstsein, das die von den anderen Sinnen gelieferten Informationen integriert.

Gedanken und Empfindungen, die kommen und gehen, scheinen nahtlos von einem Moment zum nächsten ineinanderzufließen – wie Einzelbilder in einem Film. Nicht anders sind auch die einzelnen Bewusstseins-Momente derart kurz und zahlreich, dass sie einen scheinbar ununterbrochenen Bewusstseins-Strom bilden. – Das letzte Wort ist da allerdings noch nicht gesprochen; denn all das sind nur vorübergehende Ideen und Vorstellungen unseres Verstandes.

Doch der Verstand ist nicht alles! Um uns ein Bild von dem „Bewussten Sein“ machen zu können, wählen wir der Einfachheit halber zwei Arten aus dem Bewusstseins-Strom aus: das Denkbewusstsein und das Fühlbewusstsein. Keine dieser beiden Bewusstseinsarten ist besser oder schlechter als die andere. Du benötigst beide Zugänge, um dich in deiner Tiefe zu verstehen. Indem du lernst, sie zu unterscheiden und für dich nutzbar zu machen, findest du Zugang zu deiner eigenen Stärke.

Das Denkbewusstsein ist meist mit der Vergangenheit und der Zukunft verbunden und setzt Denken und Sprache voraus. Wenn du über dich selbst nachdenkst, bist du in gewisser Weise von dir entfernt. Das Denkbewusstsein schafft oft eine Kluft: Auf der einen Seite erlebst du, wo und wer du gerade bist, auf der anderen, wo und wer du gerne sein möchtest. Aus diesem Mangelgefühl entsteht Begehren. Wenn du die Dinge nur mit deinem Verstand betrachtest, siehst du alles verzerrt – aus der Perspektive deines eigenen Egos.

Dagegen kommt unser Fühlbewusstsein ganz ohne Sprache aus. Du erfährst dich über das direkte Spüren und über die Einfühlung gelangst du in eine frische Wahrnehmung und Verbindung. Durch die Lenkung deiner Achtsamkeit auf deinen Körper aktivierst du das Fühlbewusstsein. Spüre deinen Körper, während du ein gutes Essen genießt, wenn du tanzt, Sport treibst, in der Sauna schwitzt oder dich bei einer Massage entspannst.

Versuche jetzt, deinen Körper nur von innen zu fühlen. Beginne am besten dort, wo du dich besonders gut spüren kannst, beispielsweise im Bereich des Sonnengeflechts oder in der Herzgegend. Auch wenn du über diese Zufluchtsorte Kontakt zu dir selbst aufnimmst, werden noch Gedanken auftreten. Lass sie einfach kommen und gehen. Statt ihnen zu folgen, lenke deine Achtsamkeit zurück auf das Empfinden in dem jeweiligen Zufluchtsort. Mit wachsender Achtsamkeit kannst du dann auch andere körperliche Empfindungen wahrnehmen.

Du wirst feststellen, dass jede Emotion mit körperlichen Empfindungen einhergeht. Wenn du verliebt bist, schlägt dein Herz schneller, es kribbelt im Bauch, du hast feuchte Hände, einen trockenen Mund. Emotionen sind oft zuerst als Körperempfindungen wahrnehmbar. Mit etwas Übung kannst du rechtzeitig bestimmte Gefühle erkennen, bevor sie die Kontrolle übernehmen. Indem du deine körperlichen Empfindungen bemerkst, hast du die Möglichkeit, dich bewusst zu entscheiden, wie du mit ihnen umgehen möchtest, anstatt impulsiv zu reagieren. Zum Beispiel kannst du in einem Streit innehalten und dich möglicherweise zurückziehen, bis deine Emotionen nicht mehr so intensiv sind.

Es ist wichtig, dass du deine körperlichen Empfindungen nicht bewertest, sondern einfach in Verbindung mit ihnen bleibst und ihnen Raum gibst. Wenn die Situation es zulässt, interessiere dich für sie und erforsche sie mit deinem Fühlbewusstsein. Verzichte auf Benennungen und Erklärungen und sei einfach präsent in dem, was du spürst.

Indem du deine Gefühle wohlwollend erforschst, bringst du ihnen keinen Widerstand mehr entgegen. Dadurch löst du dich von der Identifikation mit ihnen und beobachtest sie lediglich, wie sie kommen und gehen. Du erkennst, dass das Gefühl an sich nichts Bedrohliches ist, sondern wie eine Wolke, durch die du unbeschadet hindurchgehen kannst. Durch diese Übung kommst du auch in Kontakt mit einer tieferen Schicht in dir, die von Mitgefühl und Akzeptanz geprägt ist und eine liebevolle Kraft freisetzt.

Wenn du dich dem Spüren hingibst, lässt du den Verstand los und öffnest dich für ein tieferes Verständnis. Du erkennst, dass du eine innere Wahrheit besitzt, die als kosmisches Gedächtnis bezeichnet wird und in den Genen jedes Lebewesens verankert ist. Diese Verbindung zum kosmischen Urgrund wird jedoch blockiert, wenn du dem Großhirn und seinen gedanklichen und bildlichen Konstrukten Vorrang gibst. Um die innere Wahrheit zu erfassen, müssen die inneren Sinne Vorrang haben, gefolgt von den äußeren. Der gemeinsame Konsens aller Sinne ergibt dann das „reine Gewahrsein„.

Vermeide es daher, jedem Ereignis eine Bedeutung zuzuschreiben – es ist weder bedeutungsvoll noch bedeutungslos. Ordne nichts ein, lass es einfach nur sein. Bleibe wach und präsent im direkten Kontakt mit dem Leben. Wenn dir das gelingt, werden Spannungen sich lösen.

Der wichtigste Schlüssel zum Glück ist das direkte Erleben – im reinen Gewahrsein, welches es dir ermöglicht, mit dir selbst und anderen verständnisvoll und gütig umzugehen – auch in schwierigen Situationen.

 

%d Bloggern gefällt das: